Login

Banner Toggle is OFF.

REVIEW KINO: „Shahid“

Am Donnerstag startet einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme des Jahres im Kino: Der auf der Berlinale Weltpremiere gefeiert habende „Shahid“ ist vieles zugleich: Politischer Essay, autobiografische Verarbeitung und Kunstreflexion zu Themen wie dem Iran, Asyl und Deutschland.

„Shahid” (Credit: Leonie Huber/Michael Kalb Filmproduktion)

CREDITS:
Deutschland 2024; Produktion & Verleih: Michael Kalb Filmproduktion in Koproduktion mit dem ZDF / Das kleine Fernsehspiel; Regie: Narges Kalhor; Buch: Narges Kalhor, Aydin Alinejadsomeeh; Produzent: Michael Kalb; Redakteurin: Lucia Haslauer (ZDF); Cast: Baharak Abdolifard, Nima Nazarinia, Narges Kalhor, Thomas Sprekelsen, Carine Huber, saLeh roZati; Weltpremiere: Berlinale 16.2.24; Dt. Kinostart: 1.8.24

REVIEW:
Der Filmtitel „Shahid“ heißt aus dem Arabischen übersetzt so viel wie „Märtyrer“. Diesen Teil ihres Namens will die Regisseurin und Protagonistin Narges Shahid Kalhor (Baharak Abdolifard) auf dem deutschen Amt ausradieren lassen, weil er auf den ermordeten Urgroßvater zurückgeht, den sie mit dem religiös fanatischen Mullah-Regime in ihrer früheren Heimat Iran verbindet. Dabei sind die Wege der deutschen Behörden unergründlich. So findet sich Narges auf der Couch eines Psychologen wieder, der ihr erst das passende Gutachten ausstellen muss, bevor sie sich amtlich und endgültig von diesem Teil ihrer Vergangenheit trennen darf.

Die so stringent zusammengefasste Synopsis erweckt allerdings den falschen Eindruck, als würde es sich bei „Shahid“ um eine klassisch dramaturgisch erzählte Geschichte handeln. Vielmehr ist Narges Kalhors Werk, das im Februar seine Weltpremiere auf der Berlinale in der Sektion Forum feierte, ein stark autobiografisch gefärbter Filmessay geworden.

Dieser erzählt einerseits von der Asylerfahrung in Deutschland, setzt sich gleichzeitig mit der iranischen Vergangenheit und der Familiengeschichte auseinander, um weitere Meta-Ebenen einzuziehen, weil im Film teils auch die Dreharbeiten des Films zu sehen sind. So reflektiert Narges Kalhor zugleich die Herausforderung, sich mit solch einem doch eher schweren Themenkomplex künstlerisch auseinanderzusetzen.

Das von Michael Kalb produzierten Werk, das zu Teilen in den Bavaria Filmstudios, vor Ort in Augsburg und München, aber auch in Wiesbaden entstand, versteht es, die Schwere des Ganzen mit spielerischen Formen abzuschütteln. So ist Narges Kalhors Wohnung klar als Studiokulisse zu erkennen, vor der die Menschen rückwärts laufen und die Protagonistin von einem tanzenden Chor an iranischen Geistlichen begleitet wird, die immer wieder musicalartige Szenerien aufführen. Einer der Schwarztragenden soll den Urgroßvater repräsentieren, der ihr erst ganz aus dem Kopf gehen kann, wenn sie seinen Märtyrer-Namen ablegt.

Ein Reiz des Films ist auch, dass zunehmend die Grenzen zwischen Film und Dreharbeiten verschwimmen und teils gar nicht mehr ersichtlich ist, was inszeniert und was wirklich einfach in der Realität oder in der Situation aufgenommen wurde. Es hat auch etwas Traumhaftes, wenn die tatsächliche Regisseurin aus dem Off der gespielten Regisseurin, also dem eigenen fiktiven Ich, Regieanweisungen gibt.

„Shahid“ lebt als Filmerfahrung vom Einfallsreichtum, bei dem immer noch eine weitere Tür oder ein weiteres Stilelement aufgemacht wird, um die persönliche Erfahrung nochmal aus einer anderen Perspektive zu zeigen: Seien es Handpuppen oder ein zu sprechen anfangendes Gemälde, das die vergessene Urgroßmutter sogar zu Wort kommen lässt oder effektvoll eingesetzte Greenscreen-Wände zum Schluss. Es ist ein cineastisches Experiment geworden, auf das sich die Einlassung lohnt.

Michael Müller