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REVIEW CANNES: „Limonov: The Ballad“

Radikale Filmbiographie über den widersprüchlichen russischen Schriftsteller und späteren Hardliner-Politiker Edouard Limonow, gespielt von Ben Whishaw.

Kyrill Serebrennikovs „Limonov – The Ballad“ (Credit: Festival de Cannes)

CREDITS:
Land/Jahr: Italien, Frankreich, Spanien 2023; Laufzeit: 138 Minuten; Regie: Kyrill Serebrennikov; Drehbuch: Kyrill Serebrennikov, Pawel Pawlikowski, Ben Hopkins; Besetzung: Ben Whishaw, Viktoria Miroshnichenko

REVIEW:
Was immer man auch von Edouard Limonow und Kyrill Serebrennikovs Film über den russischen Hardliner halten mag, allein wegen einer einzigen Szene kurz nach der Hälfte der Laufzeit lohnt es sich, im Kino gewesen zu sein. Gerade noch waren wir im New York des Jahres 1979 mitten auf der 42nd Street. Jetzt stößt Ben Whishaw die Türen zu einem Stripschuppen auf, stürmt hinein und definiert Orson Welles’ March of Time neu: In einer einzigen Einstellung durchmisst er in einer atemberaubenden Kamerafahrt zu den Klängen von „Pretty Vacant“ von den Sex Pistols die Achtzigerjahre und kommt beim Fall der Mauer raus. Das ist Serebrennikov in seiner Essenz: die Energie von Punk, die Originalität eines Genies, ein ganz eigener Gestaltungswille, gespeist von einer singulären Vision.

Gleich zu Beginn von „Limonov: The Ballad“, basierend auf Emmanuel Carrères Romanbiographie „Limonow“ aus dem Jahr 2011, nach einem Drehbuch von Serebrennikov, Ben Hopkins und Pawel Pawlikowski (der Limonow einmal als Dokumentarfilmer begleitet hatte), wird der damalige Schriftsteller gefragt, ob der Künstlername „Limonow“ etwas mit Zitronen zu tun habe. Nein, antwortet er in der ihm üblichen konfrontativen Art, er leite sich von „Limonka“ her, dem russischen Wort für Handgranate. So sind auch die Filme von Kyrill Serebrennikov, Handgranaten, kreative Sprengkörper, Ausbrüche voller Nervosität und Aggression. Dass er sich mit einem unzugänglichen und oftmals schlicht unmögbaren Mann wie Eduard Limonow so sehr anfreunden kann, dass er einen Film über ihn machen will, womöglich sogar identifizieren mit ihm, mag mit vergleichbaren Lebensläufen zu tun haben: Limonow wie Serebrennikov wurden von ihrem Heimatland verstoßen, mussten sich als Russen im Ausland arrangieren. 

„Wer nicht aus seiner Heimat geworfen wurde, kann kein Dichter sein“, prahlt Limonow, der 1974 ins amerikanische Exil geschickt wurde und dort zum Dissidenten innheralb der Dissidentenszene wurde, weil er Russland niemals verdammte und sich über seine Wahlheimat USA nicht minder kritisch äußerte – da lassen sich durchaus Parallelen zu Thomas Brasch entdecken und dessen Haltung zur DDR und BRD, großartig filmisch festgehalten von Andreas Kleinert in „Lieber Thomas“, nur dass Brasch in seiner Verbitterung nicht zu einem Hardliner und Rechtsradikalen wurde, wie es bei Limonow der Fall war, der dem Vorbild seines Vorbilds Yukio Mishima folgte, noch so ein radikaler Schriftsteller, der in Japan mit einer politischen Kampfeinheit einen politischen Umsturz anstrebte und scheiterte. 

Kyrill Serebrennikovs Film ist eine Bestie, die in alle Richtungen kratzt und beißt, ein Film, der nicht geliebt werden will. Das würde die eigene künstlerische Vision wie auch das Sujet des Films verraten. Er speist sich einfach nur aus der endlosen Widersprüchlichkeit Limonows, der von Ben Whishaw in absoluter Selbstveräußerung gespielt wird, ein Mann, der den Durchbruch als Schriftsteller schaffen will und jeden Rückschlag in sich aufsaugt, um seine resultierenden Gewaltfantasien wiederum in Literatur umzusetzen: „Fuck Off, Amerika“ ist der deutsche Titel seines Debütromans von 1976, für den er erst 1979 einen Verlag fand. Davor nagte er nach der bitteren Trennung von seiner Frau Elena, mit der zusammen er Russland verlassen hatte, am Hungertuch, erging sich in homosexuellen Eskapaden und arbeitete in einem Akt maximaler Selbsterniedrigung als Butler – Travis Bickle als Bediensteter. Erst in den Achtzigerjahren kommt er in Frankreich als Schriftsteller zu jenem Ruhm, nach dem er immer gestrebt hat und erfindet sich dann nach der Rückkehr ins zerfallende Russland in den Neunzigerjahren wieder neu als unapologetischer Pseudo-Warlord und Anführer einer rechtsradikalen Revolution. 

What a life! Der Film folgt diesem quecksilbrigen Mann, der mal Rockstar ist und Velvet Underground hört, dann mausgrau aussieht wie ein Buchhalter und sich schließlich inszeniert als zu allem entschlossener Militarist, durch alle Phasen, alle Wandlungen, versucht immer Schritt zu halten, ihm gerecht zu werden, aber auch nicht auf den Leim zu gehen. In den besten Momenten gelingt „Limonov: The Ballad“ eben jene Quadratur des Kreises: Er ist in seinem Kopf und hält doch Abstand. Dem als Zuschauer über die volle Strecke von anstrengenden 138 Minuten zu folgen, ist ein Kraftakt. Aber da muss man durch: Es lohnt sich.

Thomas Schultze