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REVIEW CANNES: „Les femmes au balcon“

Blutiger Mitternachtsfilm über drei Freundinnen in einer brütend heißen Nacht in Marseille, die eine folgenschwere Begegnung mit ihrem Nachbarn gegenüber erleben. 

Noémie Merlants „Les femmes au balcon“ (Credit: Nord-Ouest Films)

CREDITS:
Land/Jahr: Frankreich 2024; Laufzeit: 105 Minuten; Regie: Noémie Merlant; Drehbuch: Noémie Merlant, Céline Sciamma; Besetzung: Noémie Merlant, Soheila Yacoub, Sanda Codreanu, Lucas Bravo

REVIEW:
Eigentlich hatte man sich Noémie Merlant auf dem 77. Festival de Cannes als Hauptdarstellerin von Audrey Diwans neuem Film „Emmanuelle“ im Wettbewerb erwartet – wie man sich das als Filmjournalist nun einmal ausmalt, ohne eine Ahnung davon zu haben, ob besagter Film tatsächlich eingereicht wurde und/oder nicht gewählt wurde. Nun weiß man, dass „Emmanuelle“ San Sebastián eröffnen wird – und Merlant als Regisseurin (und eigene Hauptdarstellerin) in der Sélection officielle gelandet ist, als Midnight-Screening. Was darauf hinweist, dass es wohl eine etwas extremere Angelegenheit werden könnte. 

Dass man damit in diesem Springbrunnen fast aller denkbaren Körperflüssigkeiten nur die Oberfläche kratzt, wird einem schon in den ersten Minuten bewusst, in dem die Kamera neugierig und frei fliegend an den Fassaden zweier gegenüberliegender Wohnkomplexe in Marseille entlangklettert und durch die Fenster schaut, was die Menschen dort während einer Hitzewelle – der Wetterbericht im Fernsehen warnt, dass Temperaturen bis 46 Grad erreicht werden können – treiben. Gleich fällt einem ein Balkon mit einer jungen Frau an ihrem Laptop auf, weil auf der Wäscheleine ein aufreizendes Stück Reizwäsche neben dem anderen aufgehängt ist. Zum Stoppen kommt die Kamera aber erst ein paar Balkons weiter, wo man Zeuge eines blutigen Dramas wird: Eine übel zugerichtete Frau kann die ewige Gewalt ihres Ehemanns nicht länger ertragen, schlägt ihn erst mit einer Pfanne zu Boden und erstickt ihn dann, indem sie sich mit ganzem Gewicht auf sein Gesicht setzt. 

Das ist eine Ansage: Ich werde mit meinem Film keine Gefangenen nehmen! Ich werde Euch Dinge zeigen, die ihr noch in keinem Film gesehen habt. Und wir werden Spaß dabei haben und Euch den Mittelfinger entgegenrecken: Wir lassen uns nichts mehr gefallen! „Les femmes au balcon“ ist eine Kampfansage, ein Befreiungsschlag. Das verleiht diesem so lustvoll gefilmten Film zu Beginn seine immense Power, lässt ihn dann aber später auch didaktisch werden, ein bisschen sehr bemüht in seinem Bestreben, den Stab über die gesamte Männerwelt zu brechen – oder sie, bisweilen buchstäblich, daran aufzuspießen. Geschlechterkampf mit den Mitteln des Exploitationkinos, das die Frauen befreien will: Schwänze werden abgeschnitten, Männer zur Rechenschaft gezogen in Szenen, die an das Ende des auch schon wenig gelungenen „Last Night in Soho“ erinnern: It’s payback time

Um drei Freundinnen geht es – und den Traummann auf der anderen Seite der Straße, perfekt besetzt mit Beefcake Lucas Bravo aus „Emily in Paris“, der ganz Objekt der Begierde sein darf. Eingeführt werden die Frauen wie bei Tarantino, dessen „Death Proof“ filmisch tatsächlich der nächste Verwandte ist: „Nicole“ steht in knalligen Lettern auf der Leinwand, als wir Sanda Codreanu erstmals sehen, die selbstvergessene junge Frau am Laptop, die eine romantische Komödie schreiben will und sich in erotische Tagträume flüchtet, in denen sie sich vorstellt, der schöne Mann gegenüber könne sie verführen. Sie wohnt zusammen mit „Ruby“, die ungefähr das genaue Gegenteil von ihr ist, eine selbstbewusste, aggressiv ihre Sexualität zur Schau stellende Frau, die stolz darauf ist, als Sexarbeiterin im Internet die Kontrolle über die Männer zu haben. Soheila Yacoub spielt Ruby in einer Darstellung, die gewiss zu den mutigeren in diesem Jahr zählen wird, auch wenn sie und Noémie Merlant gewiss sagen würden, da spreche schon wieder der „male gaze“ – so be it. More power to them. Zu den beiden Wohngenossinnen gesellt sich noch Merlant selbst als „Elise“, eine befreundete Schauspielerin aus Paris, die nach Terz mit ihrem Mann nach Ende der Dreharbeiten zu einem TV-Movie mit seinem Auto die 1000 Kilometer in den Süden des Landes gefahren ist, mit einem Auftritt in einem atemberaubenden roten Kleid und blonder Perücke, als würde Almodóvar an MM erinnern wollen. 

Der Bruch in der Handlung kommt, als die drei Frauen sich von dem schönen Mann gegenüber in seine Wohnung einladen lassen. Was als Hitchcocks „Das Fenster zum Hof“ begonnen hat, wird nun zu Hitchcocks „Immer Ärger mit Harry“, weil das Trio auf einmal eine Leiche an den Hacken hat und unter zunehmenden Druck überlegen müssen, wie sie diese wieder loswerden – die Prämisse von Peter Bergs ekliger Männerfantasie „Very Bad Things“ einmal auf den Kopf gestellt, geschüttelt, gerüttelt, und als ultimative feministische Kampfschrift neu ausgespielt. Vieles daran ist aufregend, elektrisierend, die gezielten Grenzüberschreitungen und Tabubrüche in Merlants gemeinsam mit ihrer „Porträt einer jungen Frau in Flammen“-Regisseurin Céline Sciamma geschriebenen Drehbuch geben dem ganzen einen ungeheuren Kick. Aber man kann sich nicht des Eindrucks erwehren, dass der Film sein Blatt überreizt, allzu didaktisch seine Themen und Argumente setzt, als einfach nur ein Porträt von drei jungen Frauen zu sein, die die Welt in Flammen setzen. Für alle Frauen, für uns alle, wie die sensationelle letzte Einstellung dem Publikum, weiblich wie männlich, berauschend mit auf den Weg gibt. 

Thomas Schultze