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REVIEW FESTIVAL: „Wir für immer“

Einfühlsames Coming-of-age-Drama über einen Teenager, der sich um seine psychisch kranke Mutter kümmert.

CREDITS:
O-Titel: Wir für immer; Land/Jahr: Deutschland, 2024; Laufzeit: 89 Minuten; Drehbuch: Thomas Schmid, Johannes Schmid; Regie: Johannes Schmid; Cast: Philip Günsch, Marie Leuenberger, Mina-Giselle Rüffer, Stefan Maaß, Vincent Hahnen

REVIEW:
Während sich seine Mitschüler in Cafés oder Kneipen vergnügen, hat der 16-jährige Jann (Philip Günsch) seinen Alltag komplett durchorganisiert. Er jobbt nebenbei als Staplerfahrer, kümmert sich um die Einkäufe, den Haushalt und um Lina (Marie Leuenberger). Sie hockt manchmal barfuß unter dem Esstisch und malt, wenn Jann von der Arbeit oder aus der Schule kommt, beim Kochen hinterlässt sie nur Chaos, zum Frühstücken geht sie aufs Dach, und sie macht Selfies ohne Film in der Kamera. Lina ist Janns Mutter, sie ist manisch-depressiv, oft spontan und kreativ, aber auch wie ein Kind, auf das er aufpassen muss. Sein Vater (Stefan Maaß), der mit seiner neuen Frau zusammenlebt, die gerade ihr zweites Baby bekommen hat, zahlt zwar Unterhalt, aber es reicht gerade für die Miete, selten für Linas Medikamente. Sie weigert sich, die Hausärztin um ein Rezept zu bitten oder sich behandeln zu lassen, außerdem hat sie ja Jann, der im Zweifelsfall für sie da ist – „Du musst für immer dableiben“, sagt sie zu ihm. Jann ist alles für sie, wie ein Ersatz für den fehlenden Partner und die verstorbene Schwester zugleich, er schirmt sie von der Außenwelt ab und von den trübsinnigen Gedanken, in denen sie gefangen ist. 

„Wir für Immer“ (Credit: Kai Schulz)

Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass da etwas schiefläuft, und dass der Teenager mit seinem Versuch, die Rolle des Fürsorgers und Versorgers zu übernehmen, nur scheitern kann. Das über Jahre eingespielte System gerät ins Wanken, als sich Jann in Selma (Mina-Giselle Rüffer) verliebt, die Cello spielt, und einen behinderten Bruder hat, der in einem Heim betreut wird – als wollte das Universum Jann einen Hinweis geben, dass er in seiner Situation nicht allein sein muss, Hilfe von außen möglich und notwendig ist. Lina spürt, wie sich ihr Sohn immer mehr entzieht, und dass es eine Lüge ist, wenn er behauptet, er verbringe Zeit mit seinem besten Freund Ben (Vincent Hahnen). Jann will seine Mutter nicht verletzen, ihn quält das schlechte Gewissen, wann immer er Spaß an etwas hat, während Lina zu Hause wartet. Es genügt schließlich ein Regentropfen, um traumatische Erinnerungen wachzurufen, sie in Panik zu versetzen und eine psychische Abwärtsspirale in Gang zu setzen.

Regisseur Johannes Schmid, der gemeinsam mit seinem Bruder Thomas Schmid auch das Drehbuch geschrieben hat, agiert oft als Grenzgänger zwischen Film und Theater, seine Inszenierung hat an manchen Stellen eine fast kammerspielartige Atmosphäre, mit strenger, minimalistischer Bildsprache und matten Farben, der stets graue Himmel wirkt bedrückend schwer, die reduzierte Hintergrundmusik wie eine tickende Zeitbombe. „Wir für immer“ ist eine einfühlsame Auseinandersetzung mit dem großen Thema mentale Gesundheit und vor allem mit der Frage, wie Familien von Erkrankten im wahrsten Sinne des Wortes in Mitleidenschaft gezogen werden. Marie Leuenberger, die zuletzt in Thomas Arslans Berlinale-Beitrag „Verbrannte Erde“ zu sehen war, und Nachwuchstalent Philip Günsch in seiner ersten Hauptrolle gelingt es eindrucksvoll und mit viel Sensibilität, das ungesunde Abhängigkeitsverhältnis nachvollziehbar zu machen, wie Linas Paranoia in Psychoterror umschlägt, wie sie sich immer mehr an ihren Sohn klammert und ihm fast die Luft zum Atmen nimmt, wie Jann daran zerbricht, dass er seine Mutter bei allen Bemühungen doch nicht retten kann. Der Film zeigt damit auch, was geschieht, wenn die Liebe zu weit geht und zu viel verlangt, er ist wie eine klassische Tragödie, mit Selma als Antagonistin, deren klares, helles Gesicht die ganze Zeit fast wie von einem Leuchten umgeben ist, die dem Helden die Augen öffnet – und schließlich auch die Liebe wieder ins rechte Licht rückt. 

Corinna Götz